Grenzflächen – Feine Bereiche mit großer Wirkung

Insekten, die auf Wasser laufen können? Kleidung, die Schmutz und Wasser einfach abperlen lässt? Die Grenzflächenspannung kann nicht nur alltägliche Phänomene erklären, sondern ist auch in Chemie und Technik bedeutsam. Treffen verschiedene Phasen aufeinander, entstehen Bereiche mit ganz besonderen Eigenschaften.God made solids, but surfaces were the work of the devil.“ Der Satz des Physikers Wolfgang Pauli (1900 – 1958) wird gerne im Zusammenhang mit Grenz- und Oberflächen zitiert. Was es damit auf sich hat, und ob die feinen Domänen der Phasengrenzen wirklich so kritisch zu sehen sind, verdeutlichen einige Beispiele.

Was sind Phasen?

Als Phasen werden gleichförmige Bereiche von Stoffen bezeichnet, in denen die Materialeigenschaften homogen sind. Dabei kann ein Stoff oder eine Mischung abhängig von Druck und Temperatur verschiedene Phasen einnehmen. Man kennt feste, flüssige und gasförmige Phasen, die bei H2O etwa Eis, Wasser und Wasserdampf sind. Phasen können durch physikalische Grenzen wie Grenzflächen voneinander getrennt sein.

Was ist Grenzflächenspannung?

An den Phasengrenzen treten einige Besonderheiten auf. Einige Eigenschaften wie Viskosität oder Wärmeleitfähigkeit ändern sich hier oft drastisch. Dabei lässt sich beobachten, dass an den Phasengrenzen eine Kraft auftritt, die als Grenzflächenspannung bezeichnet wird.

Unterschied Oberflächen- und Grenzflächenspannung

Im allgemeinen Sprachgebrauch trifft man verglichen mit der Grenzflächenspannung öfter auf den Begriff der Oberflächenspannung. Grundsätzlich beschreiben beide dasselbe – nämlich das Bestreben eines Stoffes, seine Grenze zu benachbarten Phasen möglichst klein zu halten.

Soll beispielsweise die Phasengrenze flüssig/flüssig oder flüssig/fest beschrieben werden, so ist von Grenzflächenspannung die Rede. Die Oberflächenspannung hingegen bezieht sich auf die Grenzfläche flüssig/gasförmig oder fest/gasförmig. Im Fall der Phasengrenze fest/gasförmig wird oft auch der Begriff der freien Oberflächenenergie verwendet.

Oberflächenspannung von Wasser einfach erklärt

Wie entsteht die Oberflächenspannung von Wasser und warum ist diese bei Wasser besonders groß? Das lässt sich mit einem Blick auf die molekulare Ebene beantworten.

Jedes Wassermolekül (H2O) ist seitens des Sauerstoffs leicht negativ geladen, während die Wasserstoffatome eine positive Teilladung haben. Dieser Aufbau wird auch als Dipol bezeichnet und bewirkt eine gerichtete, elektrostatische Kraft. Im Fall von Wasser spricht man bei der Wechselwirkung der Dipole untereinander von einer Wasserstoffbrückenbindung.

Dadurch, dass die Moleküle zu allen Seiten hin Nachbarn haben, gleichen sich die Dipole im Mittel aus. Dies ändert sich jedoch bei den Molekülen in unmittelbarer Nähe zur Oberfläche, wo ihnen jeweils ein Nachbar fehlt. Das führt dazu, dass diese Moleküle eine Kraft ins Innere des Wassers spüren, was sie sozusagen nach innen zieht. Dies hält die Oberfläche nicht nur möglichst klein, sondern „strafft“ sie auch und führt so zur Oberflächenspannung.

Ausrichtung der zwischenmolekularen Kräfte in einem Wassertropfen
Ausrichtung der zwischenmolekularen Kräfte in einem Wassertropfen

Sichtbar wird dieses Phänomen, wenn ein Glas mit Wasser über den Rand hinaus befüllt wird. Das Wasser läuft nicht direkt über, sondern bildet zunächst eine kleine Wölbung aus. Diese Kraft ist auch dafür verantwortlich, dass eine Büroklammer auf der Wasseroberfläche aufschwimmt und Insekten wie der Wasserläufer auf dem Wasser laufen können, ohne unterzugehen.

Definition der Oberflächenspannung

Wird die Oberfläche einer Flüssigkeit vergrößert, so muss Energie aufgebracht und gegen die Kohäsion zwischen den Molekülen gearbeitet werden.

Entsprechend ist die Oberflächenspannung definiert als die Arbeit, die zur Vergrößerung der Oberfläche verrichtet werden muss, geteilt durch die neu gebildete Fläche und kann durch die Formel 𝛾 = Δ𝑊/Δ𝐴 ausgedrückt werden.

Je nach Zusammenhang wird die Einheit Energie pro Fläche (Joule/m²; J/m²) oder Kraft pro Länge (Newton/m) verwendet. Die Größen werden üblicherweise in Millijoule pro Quadratmeter (mJ/m²) oder Millinewton pro Meter (mN/m) angegeben.

Oberflächen- und Grenzflächenspannung messen

Es gibt verschiedene Methoden und Tensiometer, um Oberflächen- und Grenzflächenspannungen zu bestimmen. Dabei werden die Grenzflächen entweder optisch analysiert oder auf die wirkenden Kräfte hin untersucht.

Beim Ring-Tensiometer beispielsweise wird ein Platin-Iridium-Ring aus einer Flüssigkeit herausgezogen. Dabei wird die Kraft an der sich bildenden Lamelle gemessen, woraus sich die Oberflächenspannung berechnen lässt. Der Ring kann ebenso von einer Flüssigkeit direkt in eine andere hineingezogen werden, wodurch man die entsprechende Grenzflächenspannung erhält.

Platin-Iridium-Ring eines Du Nouy Tensiometers beim Herausziehen einer Flüssigkeit
Platin-Iridium-Ring eines Du Nouy Tensiometers beim Herausziehen aus einer Flüssigkeit

Je nach Anwendung gibt es ähnlich funktionierende Tensiometer, die mit Bügeln, Platten oder Stäben arbeiten. Bei der Blasendruck-Methode wird die Oberflächenspannung über den Innendruck gemessen, der in erzeugten Gasblasen innerhalb einer Flüssigkeit herrscht. Die Pendant-Drop-Methode errechnet die Oberflächenspannung über die Form eines hängenden Flüssigkeitstropfens. Weiterhin lassen sich die Oberflächen- und Grenzflächenspannung berechnen, indem der Kontaktwinkel zwischen einem Flüssigkeitstropfen und einem Feststoff bestimmt wird.

Kontaktwinkel und Benetzung

Bei der Grenzfläche flüssig/fest gibt es einen Kontaktwinkel, der Werte zwischen 0° und 180° einnehmen kann. Je besser die Benetzungseigenschaftenrt als die Testtinte.

der Flüssigkeit sind, desto geringer ist der Kontaktwinkel zum Feststoff. Man spricht von benetzenden Flüssigkeiten bei Kontaktwinkeln von unter 90°, bei darüber liegenden Werten sind sie kaum oder nicht benetzbar.Da Öle und Fette die Oberflächenspannung reduzieren, wird die Qualität vieler Werkstoffe entscheidend durch die Fettfreiheit der Oberfläche bestimmt. Diese kann mit der sogenannten Prüf-Tinten-Methode ermittelt werden, bei der eine spezielle Testtinte mit definierter Oberflächenspannung eingesetzt wird. Benetzt die Tinte die Oberfläche, ohne sich zusammenzuziehen, ist die Oberflächenspannung des Werkstoffs gleich oder größer als die der Testtinte. Zieht sich die Tinte zusammen, hat der Werkstoff einen kleineren We

Oberflächenspannung in der Chemie – Anwendungen

Was bedeutet die Oberflächenspannung konkret für technische Anwendungen? Ihre Kenntnis hilft unter anderem dabei, das Verhalten von Flüssigkeiten auf Oberflächen und damit die Benetzungseigenschaften vorherzusagen. Sie muss besonders in der Beschichtungstechnik, Pharmazie, Medizintechnik und Lebensmitteltechnologie berücksichtigt werden, um die Qualität der verschiedenen Produkte zu gewährleisten. In der Nanotechnologie werden Oberflächenspannungseffekte genutzt, um Oberflächen zu funktionalisieren. Bei Metall- oder Kunststoffoberflächen lässt sich zudem der Verschmutzungsgrad ermitteln.

Im Zusammenhang mit funktionalen Oberflächen wird oft der nach der Lotusblüte benannte Lotuseffekt genutzt. Er bewirkt, dass sich bestimmte Oberflächen selbst reinigen können. Diese Materialien sind sehr hydrophob und damit kaum benetzbar. Flüssigkeitstropfen nehmen auf solchen Oberflächen eine Kugelform ein, perlen leicht ab und können dabei Schmutz transportieren.

Oberflächenspannung von verschiedenen Stoffen

Flüssigkeiten liegen meist im Bereich von 20 bis 100 mN/m bei +20 °C. Im Vergleich zu Wasser mit 72,8 mN/m ist die Oberflächenspannung von Ethanol mit 22,6 mN/m relativ gering. Das Molekül Ethanol mit der Strukturformel (CH3CH2OH) hat zwar auch einen Dipol, dieser ist im Vergleich zu H2O jedoch aufgrund des organischen Rests schwächer ausgeprägt. Dadurch ist Ethanol besser mit hydrophoben Stoffen mischbar und wird demensprechend oft als Lösungsmittel in der Pharmazie verwendet.

Die Oberflächenspannung ist dafür verantwortlich, dass eine Nadel auf der Wasseroberfläche aufschwimmt
Die Oberflächenspannung ist dafür verantwortlich, dass eine Nadel auf der Wasseroberfläche aufschwimmt

Öle liegen ebenfalls weit unter dem Wert von Wasser bei rund 35 mN/m. Damit können sie Oberflächen leicht benetzen, was etwa in Schmiermitteln oder Kriechölen angewandt wird. Die Oberflächenspannung von Quecksilber ist mit 476 mN/m für Flüssigkeiten extrem hoch. Deshalb bildet der Stoff bei Freisetzung die bekannten Kügelchen, um seine Oberfläche möglichst klein zu halten. Die hohe Oberflächenspannung von Quecksilber bewirkt auch, dass die Innenwände von dünnen Kapillaren nicht benetzt werden. Neben der konstanten Wärmeausdehnung ist dies ein Grund dafür, dass es oft in älteren Thermometern verwendet wurde.

Kapillarkräfte

Kapillarkräfte treten in dünnen Röhrchen und Kapillaren auf, die im Vergleich zum Volumen eine sehr große Oberfläche haben. Das kann zur Folge haben, dass die Oberflächenspannung den Einfluss der Schwerkraft übersteigt.

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Bei einer benetzenden Flüssigkeit lässt sich also beobachten, wie sie entgegen der Schwerkraft nach oben steigt, bis sich ein Gleichgewicht zwischen Adhäsion und Gravitation eingestellt hat. Je dünner die Kapillare ist, desto höher wird die Flüssigkeit ansteigen.

Kunststoffe und Kautschuke haben oft Oberflächenspannungen von 20 bis 50 mN/m. Hier ist PTFE (Polytetrafluorethylen) mit 19 mN/m im unteren Bereich angesiedelt, während PE (Polyethylen), PS (Polystyrol), PVC (Polyvinylchlorid) und PUR (Polyurethan) mit 31 – 43 mN/m darüber liegen.

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Silikon hat einen Wert von 24 mN/m, Naturkautschuk liegt bei 25 mN/m und Butylkautschuk bei 27 mN/m. Die Oberflächenenergie von Glas beträgt je nach Vorbehandlung rund 250 mN/m. Metalle haben weitaus höhere Oberflächenenergien von bis über 1000 mN/m.

Oberflächenspannung reduzieren

Eine zu hohe Oberflächenspannung kann in manchen Situationen problematisch sein. Der relativ hohe Wert von reinem Wasser führt zum Beispiel bei Reinigungsprozessen dazu, dass fettige und schmutzige Oberflächen nur schlecht benetzt werden. Wasser muss hier also mit einem Zusatz versehen werden, der die Oberflächenspannung reduziert und damit die Reinigungskraft erhöht.

Doch was setzt die Oberflächenspannung von Wasser herab? Das können oberflächenaktive Tenside wie zum Beispiel klassische Spülmittel sein. Diese sind amphiphil aufgebaut, konzentrieren sich im Bereich der Grenzfläche zwischen Wasser und Luft und verdrängen die Wassermoleküle teilweise. Dies verringert die Kraft, die ins Innere der Flüssigkeit wirkt. Die Oberflächenspannung von Wasser mit Spülmittel oder anderen Tensiden ist somit niedriger als die von reinem Wasser.

Silikontenside

Silikontenside sind eine Gruppe von oberflächenaktiven Substanzen, die die Oberflächenspannung bereits mit relativ geringen Konzentrationen stark absenken können. Das verleiht ihnen einen Vorteil gegenüber klassischen Tensiden wie Alkohol-Ethoxylaten, was zum Beispiel bei der Schaumherstellung sowie in Kosmetik und Landwirtschaft geschätzt wird.

Mit Silikontensiden können die Benetzung, Emulgierung und Schaumbildung von Flüssigkeiten sehr effizient eingestellt werden. Sie gelten auch als Ersatz für die aus Umweltschutzgründen zunehmend nur noch eingeschränkt eingesetzten Fluortenside.

In vielen Industriezweigen ist eine entsprechende Kontrolle über die Oberflächenspannung der eingesetzten Flüssigkeiten notwendig. Im Bereich der Druck- und Beschichtungstechnik beispielsweise muss die Oberflächenspannung der Beschichtungslösung kleiner sein als die des Werkstoffs. Andernfalls kann sich die Beschichtung zusammenziehen und abperlen. Diese Problematik tritt auch besonders im Bereich der Klebstoffe auf.

PTFE-Kleber auf synthetischer Kautschukbasis (Kontaktkleber) Cyanacrylester-Kleber - Kunststoff/Metall

Materialien mit geringen Oberflächenspannungen, wie harte Kunststoffe aus PTFE, müssen oftmals vorbehandelt werden. Hier können auch die Klebstoffe selbst angepasst oder haftvermittelnde Substanzen eingesetzt werden, um eine ausreichende Benetzung und damit Klebkraft zu erhalten.

Bildquellen:
Beitragsbild | © stanislavi150886 – stock.adobe.com
Zwischenmolekulare Kräfte in einem Wassertropfen | © Füsiahh, Public domain, via Wikimedia Commons
Platin-Iridium-Ring eines Du Nouy Tensiometers | © English:  Tibor Dubniczky, Department of Chemistry, University of Miskolc, Hungary.Magyar:  Dubniczky Tibor, Miskolci Egyetem, Kémiai Tanszék., CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, via Wikimedia Commons
Nadel schwimmt auf Wasseroberfläche | © volff – stock.adobe.com

Über Reichelt Chemietechnik

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