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Tissue Engineering

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Für die regenerative Medizin ist die Herstellung von künstlicher Haut und anderer Gewebe von großer Bedeutung. Funktionalisierte Gewebe, die die Generierung ganzer Organe ermöglichen und Tierversuche ein für allemal ausschließen können, sowie speziell für Transplantationen hergestellte Gewebe sind bereits Realität. Und an vielen anderen wird weltweit intensiv geforscht. Die Medizin, die sich mit der Wiederherstellung von geschädigten oder zerstörten Geweben befasst, setzt in die junge Disziplin des „Tissue Engineering“ große Hoffnung.

Was ist „Tissue Engineering“?

Der englische Begriff „Tissue Engineering“, den man am besten frei mit „Gewebezüchtung“ übersetzt, wurde im Jahr 1988 auf dem UCLA-Symposium der University of California (Los Angeles) über molekulare und zelluläre Biologie erstmals vorgestellt. Der US-amerikanische Bioingenieur Richard Skalak (1923 – 1997) definierte es als „die Anwendung von Prinzipien und Methoden der Technik und der Lebenswissenschaften für ein grundlegendes Verständnis der Struktur-Funktions-Beziehungen in normalen und pathologischen Säugetiergeweben und die Entwicklung biologischer Substitute zur Wiederherstellung, Aufrechterhaltung oder Verbesserung der Gewebefunktion“[1]. Tissue Engineering bedeutet letztendlich die wissenschaftliche Kooperation von Ingenieuren, Biologen und Medizinern in einer neuen, sich zunehmend verselbstständigenden Wissenschaftsdisziplin.

Wie können biologische Gewebestrukturen künstlich hergestellt werden?

Für die Gewebezüchtung werden zunächst Zellen eines bestimmten Gewebetyps aus einem Organismus entnommen und im Labor in vitro vermehrt. Alternativ können auch adulte Stammzellen eingesetzt werden, die aus dem Knochenmark von erwachsenen Personen gewonnen werden. Letztere sind „pluripotent“, was bedeutet, dass sie sich in jeden anderen Zelltyp umwandeln können.

Zellkulturflaschen, die Gewebekulturen in einem Naehrmedium enthalten tissue-engineering
Zellkulturflaschen, die Gewebekulturen in einem Nährmedium enthalten

Für die regenerative Medizin ist körpereigenes Zellmaterial am besten geeignet, da mit daraus gezüchtetem Material Abstoßungsreaktionen durch das Immunsystem vermieden werden. Bei körperfremdem Material kann es dagegen zu Autoimmunreaktionen kommen, wenn das Immunsystem dieses als „fremd“ erkennt. Man versucht dies durch Zugabe von Immunsuppressoren zu verhindern, aber nicht immer ist dies erfolgreich.

Physiologische Bedingungen in einer künstlichen Umgebung schaffen

Um Zellen beim Tissue Engineering außerhalb des Körpers zu vermehren, müssen dessen physiologische Bedingungen so gut wie möglich nachgeahmt werden. Dazu gehört nicht nur die ausreichende Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen im Bioreaktor, es müssen zudem spezielle, die Zellentwicklung beeinflussende Proteine, sogenannte Wachstumsfaktoren (engl. growth factor), zugeführt werden.

Teilweise sind auch zusätzliche äußere Stimulationen erforderlich, um eine vollständige Differenzierung zum gewünschten Zelltyp zu gewährleisten.

Denn gerade in Langzeitkulturen neigen die Zellkulturen dazu, ihre Funktion zu verlieren. Gleichzeitig können sich in ihnen Stoffwechselprodukte anreichern, die abtransportiert werden müssen. Im lebenden Organismus übernimmt der Blutreiskauf all diese Aufgaben, weshalb es Versuche gibt, auch bei medizinischen Gewebezüchtungen das Einwachsen von Blutgefäßen zu initiieren.

Züchtung von Zellkulturen beim Tissue Engineering

Bei klassischen Zellkulturen erfolgt die Züchtung auf Zellkultur-Petrischalen oder besser in Zellkulturflaschen, meist aus bioinertem Polystyrol (PS), wo sie zweidimensionale Zellschichten ausbilden. Im Körper dagegen befindet sich eine Zelle in einer komplexen, dreidimensionalen Umgebung, die durch die extrazelluläre Matrix (ECM) gebildet wird. Deshalb werden für räumliche Gewebekonstruktion außerhalb des Körpers Stützen aus biokompatiblen Matrixmaterialen erstellt, auf denen sich das Gewebe dreidimensional entwickeln kann.

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Welche Materialien stehen zur Verfügung?

Für den Aufbau dreidimensionaler Stützen zur Gewebekonstruktion kommen natürliche Materialien, wie Hydrogele aus Alginaten (aus Algen gewonnene Polysaccharide), oder aus Chitosanen (aus Pilzen gewonnene Polyaminosaccharide) in Frage. Ebenso werden synthetisch hergestellte Stoffe, wie beispielsweise Polymere der Milchsäure, sogenannte Polylactide, verwendet. In einigen Fällen wird auch „xenogenes“ Material eingesetzt. Dabei handelt es sich um biologisches Gewebe, meist tierischen Ursprungs, von dem nur noch die extrazelluläre Matrix vorhanden ist. Dieses natürliche Stützgerüst können die Zellen besiedeln und so der gewünschte Gewebetyp generiert werden. Diese Technik ist allerdings umstritten, da aufgrund der Herkunft des Matrixmaterials die Gefahr besteht, dass Krankheitserreger übertragen werden.

Vermehrung durch in-vivo oder in-vitro Tissue Engineering

In einer künstlichen Umgebung, also in-vitro, eine funktionsfähige Gewebekonstruktion zu generieren, ist schwierig. Deswegen werden neben dem in-vitro Tissue Engineering einfachere Möglichkeiten genutzt, die in-vivo arbeiten.

Beim in-vivo Tissue Engineering hilft der Körper an Ort und Stelle, geschädigte Gewebezellen zu regenerieren oder zerstörte neu aufzubauen. Im einfachsten Fall muss kein Zellmaterial entnommen werden, sondern es werden Wachstumsfaktoren in die betroffene Stelle gespritzt, um die Gewebebildung vor Ort anzuregen, eine bereits in der Zahnmedizin geübte Praxis.

Schematische Darstellung des Tissue Engineering
Schematische Darstellung des Tissue Engineering

Eine andere Variante nutzt außerhalb des Körpers gezüchtete Zellen, die in das betroffene Gewebe implantiert werden. Hier sollen sie sich dann in die vorhandenen Strukturen integrieren und geschädigte Gewebeteile ersetzen. Meist werden diese auf speziellen biokompatiblen Matrizes vorgezüchtet und mit ihnen zusammen in die betroffene Stelle implantiert. Diese Technik wird zum Beispiel für die Regeneration beschädigter Knorpelgelenke genutzt.

Das in-vitro Tissue-Engineering geht noch weiter und versucht, ein zusammenhängendes Kunstgewebe zu schaffen, mit dem Fernziel, ganze künstliche Organe zu züchten. Für Gewebe, die aus nur einem Zelltyp aufgebaut sind, ist dies bereits gelungen.

Bereits im klinischen Einsatz

Die Haut besteht aus nur einem einzigen Zelltyp und gehört zu den ersten Gewebetypen, die künstlich gezüchtet werden konnten. Heute nutzt die regenerative Medizin diese Technik in der Praxis und ihr klinischer Einsatz ist weit fortgeschritten. So helfen Transplantate bei Verbrennungen oder Wunden, die schlecht heilen. Allerdings kann die künstliche Haut die natürliche noch nicht voll ersetzen, denn bestimmte Hautfunktionen, die biologisch wichtig sind, wie die Schweißabsonderung oder der Haarwuchs, können noch nicht künstlich erzeugt werden.

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Künstliche Haut kommt auch zum Testen von Wirk- und Schadstoffen zum Einsatz. Viele validierte Verfahren können heute schon Tierversuche ersetzen. Damit werden nicht nur Forderungen des Tierschutzes erfüllt, die neuen Methoden sind auch weniger aufwändig und bringen verlässlichere Ergebnisse.

Auch Knorpelgewebe ist einfach aufgebaut und besteht aus nur einem Zelltypus. Hier ergibt sich durch die Kombination mit entsprechenden Matrizes die Möglichkeit, Knorpel nachzubauen und als Transplantat einzusetzen. Schließlich ist bereits die Züchtung von Geweben auf entsprechenden Gerüststrukturen aus patienteneigenen Zellen gelungen, die zum Ersatz geschädigter Herzklappen genutzt werden.

Tissue Engineering ist eine herausfordernde Technik mit großem Potenzial für die Medizin

Ganze Organe zu generieren, ist eines der großen Ziele der regenerativen Medizin – davon ist man allerdings noch weit entfernt. Auch der Schritt davor, die Züchtung und Kultur von mehreren verschiedenen Zelltypen in einer gemeinsamen Kultur (Cokultur), steht erst am Anfang.

Bioreaktorsystem zur Gefaessprothesenkultivierung tissue-engineering
Bioreaktorsystem zur Gefäßprothesenkultivierung

Andere Probleme betreffen die Zellzüchtung und die Vermehrung in Zellkulturen. Allein die Isolierung von genügend Zellmaterial ist schwierig. Außerdem nimmt das Wachstum von Zellen ab, die in Langzeitkultur gehalten werden. Auch die spezifische Funktion einer Zelle, ihre Differenzierung, kann mit der Zeit verloren gehen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn die Kulturbedingungen nicht genau den nötigen physiologischen Parametern entsprechen.

Manche Zelltypen brauchen zudem einen externen Stimulus. Teilweise müssen sie sogar einem physiologischen Stress ausgesetzt werden, damit sie vollständig differenzieren und funktionstüchtig sind. So muss Knochengewebe einem gewissen äußeren Druck ausgesetzt werden, um seine vollständige biologische Funktion erfüllen zu können.

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Diese Erkenntnisse erlangte die Grundlagenforschung erst nach und nach. Die richtige Gewebekonstruktion mit geeigneten Matrizes hat zwar in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht, aber 3D-Zellkulturen sind noch immer eine große Herausforderung, an der viele Forscher auf dem Gebiet des Tissue Engineering weltweit arbeiten. Große Hoffnungen werden in die Entwicklung neuer biologisch kompatibler Materialien sowie in den 3D-Druck gesetzt, der den Aufbau fragiler Strukturen für die künstliche Gewebekonstruktion erlaubt.

Quelle:
[1] R. Skalak, Tissue Engineering. UCLA Symposia of Molecular and Cellular Biology, Lake Tahoe CA. 1988; Proceedings, Wiley-Blackwell (1989)
Bildquellen:
Zellkulturflaschen | © National Cancer Institute, AV Number: AV-8307-3705 – de.wikipedia.org
Schematische Darstellung des Tissue Engineering | © Rongen – de.wikipedia.org
Bioreaktorsystem zur Gefäßprothesenkultivierung | © HIA – de.wikipedia.org

Über Dr. Karl-Heinz Heise

Dr. Karl-Heinz Heise studierte an der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg Chemie und der vormaligen Technischen Hochschule Dresden Radiochemie und Chemische Kerntechnik. Danach war er bis zur politischen Wende 1989 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Kernforschung Rossendorf (ZfK) der Akademie der Wissenschaften in verschiedenen Bereichen der Isotopenproduktion und Markierungschemie tätig. 1990 wurde er im neu gegründeten Leibnitz-Forschungszentrum Dresden - Rossendorf, dem heutigen Helmholtz-Zentrum, mit der Leitung der Abteilung für Organische Tracerchemie des Instituts für Radiochemie betraut, die sich mit umweltchemischen Prozessen in den Hinterlassenschaften des Uranbergbaus der DDR befasste. Dr. Heise ist begeisterter Hobby-Numismatiker und beschäftigt sich dabei vornehmlich mit der höfischen Medaillenkunst des 19. Jahrhunderts in Sachsen.